Sonntag, 17. Februar 2013

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben

Wie jedesmal freue ich mich sehr, an dieser Stelle einmal wieder eine Rezension von Claudia einzuleiten. Eine Rezension zu einem Buch, das ich selbst aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gelesen hätte. Gerade aus diesem Grund freue ich mich, weil damit das Biblionomicon auch etwas farbiger und vielschichtiger wird. Aber keine Vorschusslorbeeren, sondern lest lieber selbst:

Ich kann mich wirklich nicht beschweren – schließlich bin ich durchaus gewarnt worden. Aber als meine Nachbarin mich fragte, ob sie mir mal ein paar Leseexemplare aus ihrer Buchhandlung mitbringen solle, sagte ich natürlich: ja gerne! Sie vermutete, es solle sicher etwas „Anspruchsvolles“ sein. Naja, offenbar hatte ich einen Ruf zu verlieren und daraufhin habe ich mir etwas Anspruchsvolles gewünscht. Bekommen habe ich ein Buch von Sibylle Berg – ich gebe zu, dass ich bis dahin noch nichts von ihr gelesen hatte – inzwischen weiß ich auch warum! Völlig unbefangen bin ich gemeinsam mit Frau Berg auf mein Sofa gegangen und begann „Vielen Dank für das Leben“ zu lesen.

Die Geschichte sprach mich sofort an, fühlte ich mich doch gleich an Jeffrey Eugenides Roman „Middlesex“ erinnert, dessen Thematik mich sehr interessiert hat. Reingefallen, könnte sich Frau Berg denken, denn mit dem Roman hat ihr Werk so ziemlich gar nichts gemein. Aber beginnen wir am Anfang: Im Jahr 1966 kommt in der DDR ein Kind zur Welt:
Es ist ein ... fuhr sie fort, verstummte plötzlich, und schwere Stille wurde im Kreißsaal. Die Frau hörte nach Sekunden leisen Raunens ein Räuspern, dann wurde das Kind in ein Tuch gewickelt und ihr gereicht. Es ist gesund. Glaube ich. Sagte die Hebamme. Genaueres wird ihnen der Arzt sagen.“ (S. 13)
Kein Junge. Kein Mädchen, sondern ein Kind, dessen Geschlecht schlichtweg nicht definierbar scheint (zumindest nicht phänotypisch) verunsichert die sehr junge Mutter. Auf sich allein gestellt nimmt sie ihr Kind, das sie schließlich Toto nennen wird, mit nach Hause. Es ist ihr fremd, sie fühlt sich von dem Säugling geradezu beobachtet. Ihre Situation bessert sich nicht, als sie Toto beim Amt anmelden muss. Eine schroffe Beamtin (bisher waren eigentlich alle auftretenden Personen schroff zu ihr, sodass man schon Mitleid bekommt) kann es nicht fassen: „Das haben wir ja noch nie gehabt, dass ein Geschlecht unbestimmt ist, das kann ich so nicht dulden, wo kämen wir da hin, wenn jeder bei der Bestimmung seines Geschlechts nach Lust und Laune agiert.“ (S. 17). Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, bekommt Toto von seiner Mutter kurzerhand ein Geschlecht zugewiesen und wird ein Junge. Im Prinzip ist das der Ausgangspunk für eine Tragödie, die ihren Lauf nimmt, ja nehmen muss.

Toto wird in ein Kinderheim abgeschoben. In Anbetracht der ständigen Vernachlässigung durch die eigene Mutter, die sich im Vollrausch mit irgendwelchen Typen herumtreibt, sicher eine gute Entscheidung: „Fast rannte die Frau zurück in die Wohnung, eine Angst war da, Kind hätte sich etwas angetan, doch als sie die Tür öffnete und das Kind sah, wie es noch immer in unveränderter Position lag und abzuwarten schien, ahnte sie, dass sich mit ihm nie würde anfreunden können.“ (21).
Das Kinderheim ist so, wie man sich ein Kinderheim in der Literatur vorstellt: grauenerregend! Versunken in sich und seinem eingeschränkten Geist lebt oder besser existiert Toto, stets „ohne boshafte Gedanken oder Absichten“ (S. 53), denn die sind ihm/ihr fremd. Toto ist von Grund auf gut. Zarte Bindung erlebt er zu Kasimir, den man wohl als seinen einzigen positiven Eindruck in seinem bisherigen Leben bezeichnen kann. Dieser positive Eindruck hilft Toto die verachtenden und brutalen Übergriffe der Erzieherin zu überstehen. Frau Hagen terrorisiert ihre Schützlinge auf das Übelste. Toto entwickelt die Fähigkeit, sich aus den beängstigenden Situationen ‚hinauszufühlen‘:
„Frau Hagens Stimme überschlug sich, doch Toto hörte sie nicht. Er hatte einen Ort gefunden, wo er nichts mehr hörte, wenn er nicht wollte. Er lag hinter dem Brustbein, dort war es warm, dort hatte Kasimirs Hand gelegen.“ (S. 59)
...versöhnlich stimmt mich nach Totos Leid im Kinderheim, dass Frau Hagens ihr ‚gerechte‘ Strafe bekommt...Nach dem Heim kommt die Pflegefamilie. Auch hier ist er Repressalien ausgesetzt; lebt in einem Verschlag. Später bekommt Toto eine Wohnung hat eine Beziehung; setzt sich mit Homosexualität auseinander, was Sibylle Berg in epische Breite ausdiskutiert. Bis dahin hat mir die Geschichte gut gefallen. Toto ist mir ans Herz gewachsen. Der Leser fühlt mit. Hat Mitleid. Dann passiert das, was wohl in jedem ihrer Romane irgendwann passiert: er nimmt eine merkwürdige Wendung und, erlaubt mir die flapsige Wortwahl, dreht ab. Das, kam mir sofort in den Sinn, muss es sein, was viele potenzielle Leser schon beim Lesen des Namens ‚Sibylle Berg‘ auf dem Buchrücken abschrecken lässt.

Fazit: Wer Sibylle Berg mag, wird auch dieses Werk mögen. Für alle anderen gilt, lieber nicht!


Sibylle Berg
Vielen Dank für das Leben

Hanser Verlag, 2012
400 Seiten
21,90 Euro





Samstag, 2. Februar 2013

Steampunk! - William Gibson, Bruce Sterling 'Die Differenz Maschine'


Dem Phänomen 'Steampunk' in Verbindung mit alternativen Realitäten hatte ich mich bislang literarisch noch nie gewidmet. Allerdings wurde ich im vergangenen Jahr auf ein Buch aufmerksam, in dem die Geschichte der digitalen Revolution um ein ganzes Jahrhundert nach vorne verschoben wurde. Computer im 19. Jahrhundert, also im Zeitalter von Dampfmaschinen und Biedermeier? Naja, dachte ich mir... es gab da ja tatsächlich Charles Babagges berühmte Difference Engine, den mechanischen Vorläufer unserer heutigen Computer. Und dann noch ein Buch geschrieben von den beiden Vätern des sogenannten Cyberpunks William Gibson und Bruce Sterling? Das könnte interessant werden...

Wir schreiben das Jahr 1855 und die Geschichte hat einen anderen Verlauf genommen, als wir denken. Dank der perfektionierten mechanischen Computer - der Differenz Maschinen - des berühmten Mathematikers und Erfinders Charles Babbage befindet sich das britische Empire auf dem Höhepunkt seiner Wirtschaftsmacht. Allerdings verlangt dieser technische Fortschritt auch seinen Tribut.  London leidet unter einer geradezu apokalyptischen Hitzewelle, das ungebremste industrielle Wachstum hat zu immenser Luftverschmutzung und zu einem ätzenden Smog geführt, durch den sich die Londoner ihren Weg bahnen müssen. Das Computerzeitalter ist ein Jahrhundert vor seiner Zeit angebrochen und es sind die Wissenschaftler und Industriellen, die auch die politische Macht übernommen haben und jetzt den Ton angeben. An der Spitze der Regierung steht der skrupellose Lord Byron, der für die radikalen Technokraten das Zepter schwingt. England und Frankreich haben das alte Europa und den Rest der Welt untereinander aufgeteilt in ihren kolonialen Imperien. Es herrscht ein ungebremster Kapitalismus, getrieben von strenger Berechenbarkeit, unerbittlicher Pragmatik und schnellen Profit. Dampfgetriebene Automobile eilen auf ihren Autobahnen durch das am Qualm erstickende London, die Underground durchzieht mit ihren dampfbetriebenen Zügen die rauchgeschwängerten Katakomben der Großstadt. Die Technokraten sind an der Macht und die Operateure und Programmierer der dampfgetriebenen Computerungetüme prägen als neue Elite das Bild der Stadt.

Zu den Protagonisten der Handlung zählen sowohl fiktive als auch tatsächlich historische Charaktere: Sybil Gerard, Tochter eines berüchtigten Maschinenstürmers, eine „gefallene Frau“ und Prostituierte. Der Wissenschaftler Edward Mallory, seines Zeichens Paläontologe und Spezialist für prähistorische Dinosaurier. Die "Programmiererin" Lady Ada Byron, Tochter des Premierministers und Assistentin des großen Charles Babbage, zugleich mathematisches Genie und notorische Glücksspielerin. Und zuletzt der Diplomat Laurence Oliphant, Leiter des Außen-Geheimdienstes und einer der Drahtzieher hinter der ganzen Geschichte.

Die Prostituierte Sybil Gerard wird von ihrem Freier Mick Radley, einem begabten Programmierer in der Entourage des in seiner Heimat ungeliebten texanischen Freiheitskämpfers und Ex-Präsidenten Sam Houston unter die Fittiche genommen. Mit ihm zusammen soll sie in geheimer Mission nach Paris aufbrechen, doch Radley wird ermordet und Sybil muss Hals über Kopf mit einem Koffer voller geheimnisvoller Lochkarten aus Sam Houstons Besitz fliehen. Der Paläonthologe Edward Mallory ist gerade von einer seiner Forschungsreisen nach England zurückgekehrt. In seinem Gepäck befindet sich der sagenhafte "Land-Leviathan", eine Art Brontosaurus, dem er seinen ganzen Ruhm verdankt. Durch Insiderinformationen und Wettglück gelangt er zu einem stattlichen Vermögen, doch noch auf der Rennbahn macht er unfreiwillig Bekanntschaft mit einem zwielichtigen Pärchen, dem er eine anscheinend entführte Dame entreißen kann. Diese entpuppt sich als niemand anderes die Tochter des Premierministers, die berühmte Lady Ada Byron, die "Königin der Maschinen". Bevor sie wieder verschwindet, drückt sie Mallory einen geheimnisvollen Kasten mit Lochkarten in die Hand. Doch diese Lochkarten sind anscheinend hoch begehrt und so gerät der Wissenschaftler in arge Bedrängnis, während er einer weltumspannenden Verschwörung auf die Spur kommt.

Meine Erfahrungen mit alternativen Realitäten in der Literatur sind leider begrenzt, doch glaube ich, dass man schon eine gehörige Menge an historischem Wissen mitbringen muss, um diese Geschichte in ihrer ganzen Breite wirklich schätzen zu können. Oft sind es die nur am Rande aufblitzenden Seitenhiebe, die man in den richtigen geschichtlichen Kontext setzen muss, um deren Originalität genießen zu können. Tatsächlich wurde der historische Sommer 1858 von den Londoner Zeitgenossen als "The Great Stink" bezeichnet und ging als solcher in die Geschichte ein. Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer und London wuchs sehr viel schneller als seine dringend benötigte Kanalisation. Die Themse und viele ihrer Zuflüsse im Stadtgebiet waren extrem stark verschmutzt. Die hohen Temperaturen förderten die Vermehrung von Bakterien und der daraus resultierende Gestank war derart unerträglich, dass sogar Regierung und Gerichte einen Umzug aus der Stadt ernsthaft erwogen. Auch die Differenz-Maschine gab es wirklich, aber erst ihr Nachfolger, die nur auf dem Reißbrett konzipierte "Analytical Engine" war ein nach heutigen Maßstäben frei programmierbarer Computer, der aber aufgrund der damals nicht realisierbaren feinmechanischen Exaktheit niemals in die Tat umgesetzt werden konnte. William Gibsons und Bruce Sterlings negative Utopie einer auf Dampfbetrieb aufbauenden digitalen Revolution scheint weit hergeholt, aber es ist die darin enthaltene Kritik an der Natur des Menschen und des ungebremsten Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, der durch diese Überhöhung umso deutlicher in den Vordergrund gerät. Dabei erlauben sich die beiden Autoren auch das ein oder andere Augenzwinkern, etwa wenn sie Karl Marx in die USA auswandern lassen, wo er ausgerechnet in Manhattan eine sich der freien Liebe hingebende Kommune gründet. Mir persönlich hat dieses Spiel mit der Historie recht gut gefallen, doch befürchte ich, dass es einen Leser leicht überfordern könnte, falls dieser nicht über genügend Hintergrundwissen über Informationstechnik und die Geschichte des 19. Jahrhunderts verfügt. Allerdings halte ich die lobhudelnde Kritik der New York Times als vollkommen übertrieben, die behauptet, dass "wer die digitale Revolution verstehen will", dieses Buch gelesen haben müsste.

Fazit: Ungewöhnliche und originelle alternative Realität, spannend erzählt für Liebhaber des 19. Jahrhunderts, die mit einem Computer gut umzugehen wissen und für alles offen sind ;-) Lesen!



William Gibson
Bruce Sterling

Die Differenz-Maschine
Heyne Verlag, München, 2012.
624 Seiten
9,99 Euro