Dienstag, 31. Juli 2012

Im Auge des Betrachters - Gail Jones 'Sechzig Lichter'

Man hat zu jeder Epoche so seine Vorstellung. Mitunter sind diese aber von der Realität ziemlich weit entfernt und häufig recht lückenhaft - zumindest geht es mir (von einigen Ausnahmen mal abgesehen) mitunter genau so. Nimmt man z.B. das Viktorianische Zeitalter: Spontan denke ich an Reifröcke und Korsetts, zivilisierte Teestunden, gesittete Spaziergänge untergehakter Paare unter weißen Sonnenschirmen; dann an die Präraffaeliten - vor allem an John William Waterhouse und seine Lady of Shalott (1888), an die wunderschöne Architektur, an Charles Dickens und seinen Freund Wilkie Collins, an Shaw, Wilde und Stevensons Schatzinsel - ja, und an das Commonwealth. Aber natürlich werden meine schlaglichtartigen Vorstellungen der wahren Zeit in keiner Weise gerecht. Dafür braucht es schon ein wenig mehr:

Wer sich ganz auf die Zeit Königin Viktorias einlassen und zumindest für kurze Zeit in ihr abtauchen möchte, dem sei der Roman "Sechzig Lichter" von Gail Jones ans Herz gelegt. Und auch wer sich selbst als, sagen wir es ganz lapidar 'Freund guter Literatur' bezeichnet, wird viel Freude an dem, für meinen Geschmack viel zu dünnen Bändchen, finden - ich jedenfalls war sehr traurig, als es sich nach 220 Seiten seinem Ende neigte.

Wie immer möchte ich gar nicht zu viel von der Geschichte vorwegnehmen. Nur so viel: Lucy Strange - nomen est omen - und ihr Bruder Thomas erleben ihre Kindheit gemeinsam mit ihren Eltern in Sydney. Als ihre Mutter Honoria im Kindbett stirbt und ihr Vater Albert sich vor lauter Kummer nicht anders zu helfen weiß, als sich zu vergiften, sind die Geschwister auf sich gestellt. Sie reisen zu ihrem Onkel Neville nach London, wo sie sich gemeinsam mehr schlecht als recht durchbringen, schließlich jedoch zu einer Familie zusammenwachsen. Die Gegensätze zum geliebten Sidney sind frappierend und für Lucy anfangs beängstigend:
"Es war die Größe des Ortes, an die sie sich nicht gewöhnen konnte: mehr Straßen und Gassen, als sich je ein Mädchen würde merken können, Tausende von Schornsteinen, die in den Himmel stachen, Gebäude, endlose Gebäude hinter komplizierten Fassaden, die wirkten wie missbilligende Gesichter mit roten Augen." (S. 75)
Thomas stellt sich, nachdem er den missglückten Versuch unternommen hatte Küfer zu werden, bei Mr Martin Childe’s Laterna Magica Establishment vor, um dort
"eine berufliche Laufbahn einzuschlagen, bei der er mit der Projektion von Bildern zu tun haben würde. [...]. Beide liebten vor allem die Trugbilder, die grässlichen Horrorgeschichten, die Gespenster und die ungebändigte Gewalt.“ (S. 90f.) 
Lucy arbeitete in einer Fabrik für Papierveredelung und ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie nah ihr das von ihr hergestellte Produkt später einmal sein würde. Dennoch ist bereits deutlich die Affinität zum Werkstoff zu spüren:
"Am liebsten arbeitete sie mit Papier. Ein einzelnes Blatt wurde in die Albuminlösung getaucht und dann zum Trocknen aufgehängt. [...]. Alles an diesem Arbeitsprozess stank, doch gewährte er das vorindustrielle, befriedigende Gefühl, einen gesamte Herstellungsprozess bis zur Vollendung betreut zu haben, bis die Päckchen sauber adressiert an die Fotografen geschickt wurden." (S. 93)
Lucy vermag ihre Umwelt auf eine Art und Weise wahrzunehmen, die den meisten Menschen immer verschlossen sein wird. Eine erste tiefergehende Wahrnehmung erlebte sie in Kindertagen, als ihr Mrs. Connor, eine alte blinde Nachbarin, ihre Eindrücke schildert:
"Ich liebe [...] sehr laute Vögel. In diesem Land haben wir so viele, sie erfüllen den Himmel." Danach hörte Lucy die ganze Woche Vögel laut zwitschern. Ein einziger Satz hatte die Welt und das in ihr Gegenwärtige neu geordnet. Ein einziger Satz. Nur einer. (S. 52)
Charles Darwin
Fotografie von
Julia Margarete Cameron, 1888
Ihre Sicht auf die verschiedensten Dinge ist immer wieder Thema. Sie verzeichnet solche Momente später in ihrem Tagebuch als "Nicht Entstandene Fotografien", die allein durch Gail Jones‘ Beschreibungen vor unserem inneren Auge sichtbar werden:
"Einfach nur das. Drei saphirblaue Hyazinthen in einem Tontopf. Sie besaßen die Ernsthaftigkeit von Monumenten und die Vollkommenheit Edens. Und Venen wie Schnüre, wie die an den Händen alter Menschen." (S. 83)
Man kann die Blumen doch förmlich riechen, oder? Erst nachdem Lucy nach Bombay geschickt wird, um sich dort zu verheiraten, wird sie zur "wirklichen“ Fotografin, die ihre Ideen nun nicht mehr nur im Gedächtnis entwickelt, sondern auf Papier fixiert. Große Unterstützung leistet Isaac Newton, ihr vom Onkel arrangierter Ehemann, der sich jedoch statt mit der großen Liebe, zu seinem Leidwesen, mit tiefenempfundener Freundschaft zufrieden geben muss. Er ist es, der Lucy eine Fotoausrüstung schenkt. Bereits kurz nach ihrer Ankunft im neuen Land bemerkt sie
„dass diese Welt dichter pigmentiert war: Die Farben waren intensiver, durchdringender und hafteten den Gegenständen stärker an. Nach Australien war Lucy England wie eine blasse Nation vorgekommen, voller leicht verhärmter und totenbleicher Gesichter. Doch Indien überstrahlte selbst Australien.“ (S. 111)
Mit allen Sinnen erfährt sie die für sie neue Kultur, die Menschen, Landschaften und Gerüche. Gail Jones beschreibt das alles so eingehend und plastisch, dass man völlig eintauchen kann - sowohl in die Zeit als auch in den Raum. Zurück in England verbleibt Lucy nicht mehr viel Zeit und sie erleidet ein Schicksal, das sie mit vielen Menschen zu dieser Zeit teilte - Schwindsucht. Von der Krankheit geschwächt und gezeichnet beschließt sie, "eine letzte Reihe von Fotografien aufzunehmen, die ihre Abschiedsbotschaft sein würde und Trauer abwenden sollte."

Gail Jones vermittelt uns mit ihrem Roman eine Vorstellung des Viktorianischen Zeitalters, bietet Einblicke in die frühe Fotografie und lässt uns an verschiedenen Nebenschauplätzen teilhaben, z.B. schaut sie immer wieder zurück in die Vergangenheit und bringt uns so die zauberhafte Liebesgeschichte zwischen Honoria und Albert, ihren Eltern, näher. Sechzig Lichter ist ein absolut zauberhaftes Buch, das mit viel Feingefühl das tragische Schicksal einer jungen Frau vermittelt ohne jemals sentimental zu sein - herausragend!

Kathleen Newton auf einem Bild
Jacques Tissots
(A Type of Beauty, 1880)
...darüber hinaus: Ich bin die gesamte Lesezeit hindurch überzeugt gewesen, dass es sich bei Lucy Strange um eine reale Persönlichkeit handelt. Als ich versuchte etwas mehr über sie in Erfahrung zu bringen, wurde mir klar, dass dem nicht so ist. Vielmehr hat sich Gail Jones durch die Person der Julia Margarete Cameron (1815-1879) inspirieren lassen. Cameron - übrigens Großtante Virginia Woolfs, die ihr Leben im Theaterstück "Fresh Water" verarbeitete - lebte in großbürgerlichen Verhältnissen in England und den britischen Kolonien und begann erst spät mit der Fotografie, nachdem sie 1863 eine Kamera von ihrer Tochter geschenkt bekam - zum Zeitvertreib. Bereits ein Jahr später wurde sie in die Royal Photographic Society aufgenommen. Seit 1865 präsentierte sie ihre Fotografien, die sie selbst bereits als "Errungenschaften der Kunst" bezeichnete, in zahlreichen Ausstellungen. Bekannt sind zahlreiche Portraits viktorianischer Persönlichkeiten, z.B. das des Naturforschers Charles Darwin. Das Schicksal Lucy Stranges teilte Cameron nicht. Hier orientierte sich Gail Jones an der Geliebten des französischen Malers Jacques Tissots, Kathleen Newton. Sie lebten gemeinsam in London, bis auch sie früh an der Schwindsucht verstarb. (Für die hilfreichen Informationen möchte ich Katharina Picandet vom Verlag Edition Nautilus herzlich danken!)

Schwindsucht und weiße Pest...
...sind historische Bezeichnungen für die Tuberkulose, eine sich weltweit verbreitende, meist die Lunge befallende, bakterielle Infektionskrankheit. Erst 1882 beschrieb und benannte Robert Koch das Mycobacterium tubercolosis, wofür er 1905 mit dem Nobelpreis für Physiologie ausgezeichnet wurde. Anfang des 19. Jahrhunderts war in England einer von vier Todesfällen auf die TBC zurückzuführen und noch 2008 vielen nach Angaben der WHO über 1,8 Millionen Menschen dieser Infektion zum Opfer.

Laterna Magica (um 1760)
Laterna Magica:
Die Laterna magica ist ein Projektionsgerät - sozusagen der erste Diaprojektor - das vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein in ganz Europa verbreitet war. Besonderer Beliebtheit erfreute es sich im 19. Jahrhundert, wo es regelrecht zum Massenmedium avancierte. Meist waren es umherziehende Schausteller, die ihre Vorführungen auf Jahrmärkten, Messen oder in Varietétheatern präsentierten. Auch in Kirchen und Wirtshäusern wurden Aufführungen veranstaltet. Die Vorführungen dauerten bis zu zwei Stunden und wurden von Musik begleitet oder sogar durch einen "Lecturer" kommentiert. Zur Blütezeit der Laterna Magica im 19. Jahrhundert waren verschiedene Arten von Projektionsbildern verbreitet, die dem Zuschauer auf unterschiedliche Weise raum-zeitliche Vorgänge vermitteln konnten: durch Bilderreihen, Veränderungen im Bild selbst mithilfe beweglicher Masken oder Überblendungen - sozusagen Kino entschleunigt.

Eure Claudia Kleimann-Balke


Gail Jones
Sechszig Lichter
Edition Nautilus 978-3-89401-562-6 , gebunden
dtv 978-3-423-138465, Taschenbuch

Mittwoch, 18. Juli 2012

Auf der Jagd nach dem Glück - Benedict Wells 'Fast Genial'

Stell Dir vor, Du lebst in einer US-Kleinstadt in einem heruntergekommenen, schmutzigen Trailerpark. Du hast keine Ahnung, wer eigentlich Dein wirklicher Vater ist. Dein Stiefvater hat Deine zu Depressionen neigende Mutter schon lange verlassen. Zudem hat sie gerade ihren Job als Verkäuferin verloren und der Stiefvater die Unterhaltszahlungen drastisch gekürzt. In der Schule gehörst Du auch nicht mehr zu den Gewinnern, nachdem Du das Ringen als Sportart aufgegeben hast, und Dein zukünftiger Weg in Richtung 'Versager' scheint eigentlich schon vorprogrammiert.

Genauso geht es Francis Dean, knapp achtzehn Jahre alt, dessen Mutter gerade ins Krankenhaus eingewiesen wird, weil die Depressionen einmal wieder verstärkt durchschlagen. Aber nach dem Selbstmordversuch seiner Mutter findet Francis einen Brief, der alles ändern soll. Sein Vater, so schreibt seine Mutter, sei in Wahrheit ein erfolgreiches Genie, ein Cello-spielender Harvard-Wissenschaftler mit einem IQ von 170. Francis sei im Rahmen eines Experiments, an dem seine Mutter teilgenommen hatte, in der Retorte gezeugt worden.  Dabei greift Wells auf eine reale Geschichte zurück, die vor gut 10 Jahren durch die Presse geisterte:  die 1980 vom Eugeniker Robert Klark Graham gegründeten Hochbegabten-Samenbank. Dachte Francis zuvor, dass sein Vater ein Niemand gewesen sei, ein Versager, der seine Familie im Stich gelassen hat, so ist er jetzt überzeugt davon, dass sein Leben einen Sinn hat und er unbedingt seinen richtigen Vater finden muss.
"All diese verlorenen Gestalten, die nichts zustande brachten, die es nicht in sich hatten, je etwas Großes zu stemmen. Und plötzlich durchzuckte es Francis. Er würde einmal so werden wie sie, egal wie sehr er sich wehrte. Er würde niemals von hier wegkommen!" (Seite 57)
Zusammen mit seinem schrägen Freund Grover und der knapp älteren Anne-May, in die sich Francis in der Klinik verliebt hat, macht sich das Trio auf den Weg. Mit dem von seinem Stiefvater abgetrotzten Geld starten sie zu einem Roadtrip, der sie durch mehrere Bundesstaaten nach Las Vegas und schließlich nach Kalifornien führen soll, zur Klinik, in der Francis gezeugt wurde, um dort Informationen über seinen Vater zu bekommen. Doch Las Vegas wird auch zu einer Art Wendepunkt für Francis. Zunächst verliert er all sein Geld, dann kommt es auch noch zum Streit zwischen den Freunden. Schließlich gelingt es Francis tatsächlich mehr über seinen Vater herauszubekommen. Der Weg führt dabei sogar bis nach Mexiko und am Ende erweist sich der Traum vom 'perfekten Vater' doch nur als Irrweg. Alles kommt anders als man denkt, aber letztendlich passt doch alles zusammen.
"Weißt du, es heißt ja immer, dass man mit harter Arbeit und Fleiß alles erreichen kann,,aber dabei vergisst man, dass Glück und Pech im Leben eine oft noch viel größere Rolle spielen. Es hängt so viel mehr vom bloßen Zufall ab, als wir wahrhaben wollen." (Seite 242)
'Fast genial' ist also der erste Roman, den Wells nach seinem Durchbruch mit 'Becks letrzter Sommer' schrieb. Allenthalben (außer in der NZZ) wird der Roman von Benedict Wells hochgelobt. Ja, der Roman liest sich flott, spannend und gleich unterhaltsam. Aber mit dem Zeichnen der Figuren tut sich Benedict Wells noch schwer. Irgendwie kommen die Zerrissenheit und die tatsächlichen Gefühle der drei Hauptakteure nicht wirklich beim Leser an, so dass man sich in sie hineinversetzten könnte. Und ja, die Geschichte wirkt reichlich "konstruiert". Das Coming-of-Age Roadmovie fesselt zunächst mit dem abstrusen Gedanken, dass ein Verlierer seine geniale Herkunft entdeckt und darüber zum Gewinner mutieren könnte. Doch fällt es Wells auch hier schwer, die Triebkraft seiner Gralssuche über mehrere Bundesstaaten und knapp 300 Seiten hinweg aufrecht zu halten. Immer wieder werden dabei Klischees über Klischees gestapelt. Auch wenn viel passiert auf dieser Reise quer durch die USA, am Ende blieb ein schales Gefühl zurück. Dennoch, es sind die Dialoge und Gespräche der drei Heranwachsenden, in denen die Träume und Sehnsüchte dieser Ruhelosen zum Ausdruck kommen, die mich letztendlich doch mit dem Buch versöhnt haben.

Fazit: Roadmovie, Gralssuche und Erwachsenwerden, das alles bietet Benedict Wells Roman. Nur dass er an die stilistischen Vorbilder ('Der Fänger im Roggen' oder 'On the Road') dabei nicht ganz heranreicht. Trotzalledem nicht schlecht.


Benedict Wells
Fast genial
Diogenes (2011)
336 Seiten
19,90 Euro

Samstag, 7. Juli 2012

Eiskalt - Christoph Ransmayr 'Die Schrecken des Eises und der Finsternis'

Nein, es war vielleicht nicht die beste Idee, dieses Buch im Monat Juni zu beginnen, bei sommerlich schwülwarmen Temperaturen. Immerhin, zur Zeit um den Johannistag bleibt es in unseren Breiten fast bis gegen 11 Uhr abends hell - naja, natürlich 'hell' im Sinne von 'noch nicht ganz schwarzdunkle Nacht'. Gibt dies doch zumindest einen kleinen gedanklichen Hinweis darauf, dass es noch weiter droben im Norden eine Gegend gibt, in der zu dieser Jahreszeit die Sonne überhaupt nicht mehr unter geht. Stellt man sich dann aber im Gegensatz dazu vor, dass dem polaren Tag auch eine mehrmonatige Nacht folgt, ein immerwährendes Dunkel und ein verzweifeltes Harren in der Eiseskälte in der Hoffnung, eines Morgens doch zumindest ein kleines Stückchen der Sonnenscheibe wieder am Horizont zu erspähen, dann beschleicht einen ein schauriges Gefühl. Man fragt sich, warum Menschen sich das freiwillig antun. Insbesondere, wenn man gezwungen ist, in einer kleinen Nussschale von Schiff, eingeschlossen von polarem Packeis, ständig dem knarrenden Drängen des Eises ausgeliefert, in Dunkelheit und Kälte auszuharren.

Genau dies ist das Thema von Christoph Ransmayrs authentischem, kollagenartig zusammengestellten Bericht 'Die Schrecken des Eises und der Finsternis', in der er die Geschichte der k.u.k österreichisch-ungarischen Nordpolarexpedition von 1872 unter Linienschiffsleutnant Carl Weyprecht und Oberlieutenant Julius Payer auf der Suche nach neuem Land unterhalb des Pols und der Nordostpassage geschildert wird. Dabei bedient sich Ransmayr originaler Dokumente und Briefe, die wie in einer Art Kollage zusammengewürfelt in der Rahmengeschichte auftauchen über den orientierungslosen Josef Mazzani, der auf den Spuren der Weyprechtschen Expedition auf eigene Faust nach Spitzbergen reist und dort verloren gehen wird. Daneben stellt Ransmayer Fotografien, alte Stiche oder Personallisten der Expedition und verfolgt auf eigenen Exkursen die Geschichte des Wettlaufs um den nördlichen Pol und die trügerischen Versprechungen einer Nordost- bzw. Nordwestpassage, die einen kürzeren Seeweg nach Indien und Asien, und damit höheren Profit verheißen. Doch im Mittelpunkt des Berichts steht die Expedition von 1872, in der sich ein kleiner Haufen verwegener Männer von der adriatischen Küste stammend nach Bremerhafen einschiffen und sich auf den Weg ins Ungewisse auf der Suche nach Ruhm und Ehre fürs österreichische Vaterland machen.
"Wer die Natur bewundern will, der beobachtet sie in ihren Extremen. In den Tropen, in ihrer vollsten Pracht und Üppigkeit, im strotzenden Sonntagskleide, über dessen Betrachtung man nur allzu leicht geneigt wird, den Kern zu übersehen - an den Polen in ihrer Nacktheit, die aber umso klarer und deutlicher den großartigen inneren Bau hervortreten lässt." (Carl Weyprecht)
Doch der Norden ist unerbittlich. Nur allzuschnell ist der arktische Sommer vorüber und ihr Schiff, die Admiral Tegethoff, wird vom Eis eingeschlossen. Nachts schabt und kracht das Eis, das gegen die dünnen Schiffswände drängt. Und es wird dunkel. Der polare Winter hat ungeahnt deprimierende Wirkung auf die Besatzung. Monatelang eingeschlossen, einzig die vorhandenen Konserven und das Fleisch einiger Polarbären, die sich auf ihren Wanderungen im Packeis zum Schiff verirrten, halten die Männer mehr oder weniger am Leben. Kaum einer weist noch keine Erfrierungen auf. Krankheit und Skorbut greifen um sich. Als die Sonne im nachfolgenden Jahr endlich wieder über dem Horizont erscheint, hoffen und harren die Männer der Admiral Tegethoff darauf, dass das Eis endlich aufbricht, aber vergebens. Zwar entdecken sie tatsächlich ein neues, bislang unbekanntes Land, das sie nach ihrem Monarchen Franz-Josef-Land taufen. Doch verheißt der kahle eisige Felsen nichts als eine weitere trostlose Eishölle. Nach dem zweiten Winter im ewigen Eis ist ihnen klar, sie müssen sich zu Fuß in Richtung Süden aufmachen, wenn sie überleben wollen.
"Einsam und in Gedanken durchmess ich die ödesten Gefilde mit zögernden, langsamen Schritten und die Augen führ ich, auf Flucht bedacht, umher, aufmerkend, wo Menschenspur im Sande sich einpräge..." (Seite 108)
Obwohl sich für mein Empfinden das Buch etwas holprig las, hat es mich doch beeindruckt. Es zieht sich eine tiefe Melancholie des Scheiterns gleich einem roten Faden durch die vielen Geschichten rund um die Eroberung der Arktis. Wofür eigentlich die ganzen Strapazen, nur um am wortwörtlichen Ende der Welt eine Fahnenstange in das Eis zu treiben, die sich nach ein paar Monaten aufgrund der Eisdrift schon gar nicht mehr am Pol befindet? Warum, so frage ich mich, flogen Menschen zum Mond (den Kalten Krieg bei Seite gelassen)? Warum wird seit Jahren unentwegt sogar an einer bemannten Reise zum Mars geplant? Ich erinnere mich an den Satz aus dem Intro einer populären Fernsehserie aus meinen Kindertagen, der mir immer noch in den Ohren klingt: "To boldly go, where no man has gone before...". Es geht doch immer nur darum, das Ultima Thule zu erreichen, das noch unentdeckte Ziel, das noch kein Mensch je betreten hat. Und wenn man dann dort ist, sucht man sich das nächste. Erinnert mich irgendwie auch an den Mythos vom armen Sisiphus.

Fazit: Ein eiskalter und streckenweise deprimierender Reisebericht mit allerlei Wissenswerten über den arktischen Norden und den vergeblichen Versuch, diesen zu bezwingen. Winterlektüre!


Christoph Ransmayr
Die Schrecken des Eises und der Finsternis
Fischer Tb., 2. Aufl. (2006)
368 Seiten
9,00 Euro