Sonntag, 23. Mai 2010

Filigran, bizarr und faszinierend - Jorge Luis Borges 'Erzählungen II'

Sollte man nun ein Buch, nachdem man es gelesen hat, eine Weile ruhen und 'sich setzen' lassen, damit man das Gelesene besser 'verdaut', um es anschließend bar des aktuellen Kontextes wertefrei und objektiv beurteilen zu können? Oder sollte man, kaum dass man es aus der Hand gelegt hat, seine Eindrücke und Gefühle niederschreiben, solange diese noch frisch und präsent sind? Meiner Meinung nach wird man mit zunehmenden Abstand objektiver, aber auch 'gelassener', d.h. überschwängliche Freude oder Kritik verblassen im Lauf der Zeit. Aber auch die Erinnerung an manche bemerkenswerten Details geht verloren. Solange wir nicht über ein fotografisches Gedächtnis verfügen, werden aktuelle Eindrücke immer wieder von neueren überschrieben, und wir müssen kräftig schaben, ehe das ewige Palimpsest unserer 'Höhlen der Erinnerung' (wie sie Borges in Anlehnung an Augustinus bezeichnet) die alten Aufzeichnungen wieder freigibt.

Jorge Luis Borges war eine faszinierende Persönlichkeit, die mich bereits als Jugendlicher in Erstaunen versetzte. Kennengelernt hatte ich den argentinischen Schriftsteller zuerst als Herausgeber der 'Bibliothek von Babel', einer 30-Bändigen Sammlung phantastischer Erzählungen, erschienen Anfang der 1980er Jahre bei Edition Weitbrecht, von denen er jeden Band gekonnt und liebevoll einzuleiten verstand. Bereits mit Mitte 30 begann sein Augenlicht zu verlöschen und mit 50 Jahren war er vollends erblindet. Als (blinder) Direktor der argentinischen Nationalbibliothek gab er auch das Vorbild zu Umberto Ecos grauer Eminenz 'Jorge von Burgos' aus dem 'Namen der Rose' - der Figur, die hinter den Kulissen der Klosterbibliothek die Fäden in diesem großartigen Roman zieht. Später im Studium lernte ich (wie übrigens viele andere Informatiker) dann auch Borges berühmte Erzählung 'Die Bibliothek von Babel' kennen, in der er das Universum als unendlich große Bibliothek beschreibt, in der alles, was jemals (mit Hilfe der Buchstaben des lateinischen Alphabets und ein paar Satzzeichen in unendlicher Kombination) geschrieben werden könnte, wohlorganisiert seine Aufstellung findet. Borges zeigt in seinen oft phantastischen Werken eine wahre Begeisterung für die Abgründe des 'Unendlichen', aber dazu später mehr.
"Schlafen ist bekanntlich die geheimste unserer Handlungen. Wir widmen ihm ein Drittel unseres Lebens und verstehen es nicht. Für einige ist es nichts als die Verdunkelung des Wachens; für andere ein komplexer Zustand, der zugleich das Gestern umfasst, das Jetzt und das Morgen; für dritte eine ununterbrochene Reihe von Träumen." (Seite 48)
Der Band mit Erzählungen, den ich heute kurz vorstellen möchte, fasst Texte aus dem Spätwerk des großen Schriftstellers zusammen, die vormals in Einzelzusammenstellungen unter den Namen 'David Brodies Bericht' (1970), 'Das Sandbuch' (1975) und 'Shakespeares Gedächtnis' (1980/83) erschienen sind. Jede einzelne dieser zum Teil durchaus bemerkenswerten Geschichten vorzustellen wäre ein mühseliges Unterfangen. Daher möchte ich nur einige zusammenfassende Bemerkungen unternehmen und ein paar Streiflichter setzen. Zuerst tat ich mich etwas schwer mit den Erzählungen in 'David Brodies Bericht', umfassten sie doch hauptsächlich anscheinend biografisch gefärbte Novellen und Begebenheiten aus dem Südamerika des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wir lernen die Welt der Gauchos und Machos kennen, in denen Männlichkeit, Ehre und Messerstechereien zum 'guten Ton' zählen. Eigentlich nicht wirklich meine Kragenweite. Doch dann kam 'Das Evangelium nach Markus'. Wieder eine Geschichte, die recht harmlos begann. Ein Gast auf einer Estancia nimmt in der Abwesenheit des Patrons dessen Stelle ein, als ein Unwetter das Gut von der Außenwelt abschneidet. Dann begeht er den Fehler, den weltfremden und ungebildeten Peones (=abhängige Bauern und Arbeiter) aus der Bibel vorzulesen, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf....
"Der Buchdruck, der heute abgschafft ist, war eins der schlimmsten Übel der Menschheit, denn er lief darauf hinaus, überflüssige Texte zu vervielfältigen, bis einem schwindlig wurde." (Seite 157)
Im 'Sandbuch' befinden sich dagegen schon mehr Erzählungen, die der Phantastik zugerechnet werden können mit zum Teil philosophischen und tiefgreifenden Gedankenspielen über Doppelgänger, Paradoxien des Zeitreisens und der Grausamkeit des Unendlichkeitsbegriffs. Das 'Sandbuch' ist dabei auch Titel einer bemerkenswerten Erzählung über ein Buch mit unendlich vielen Seiten. Aber wenn man es erst einmal in seinen Besitz gebracht hat, kann es einen um den Verstand bringen. Also wie wird man es am Besten wieder los?
"Mir fiel ein, gelesen zu haben, dass das beste Versteck für ein Blatt der Wald ist." (Seite 182)
In 'Shakespeares Gedächtnis' finden wir erneut phantastische Erzählungen, von denen mir der 'Blaue Tiger' besonders gefallen hat. Die Erzählung handelt von einem Mathematikprofessor, der immer wieder von blauen Tigern träumt. Als er sich im Dschungel nach ihnen auf die Suche macht, findet er stattdessen seltsame blaue Steine, die sich auf unheimliche Weise vermehren und wieder dezimieren. Sie entziehen sich jeder Arithmetik, Mathematik und Logik. Der Besitz dieser Steine treibt den Professor beinahe in den Wahnsinn, bis er sie an einen Bettler weitergeben kann.

Der vorliegende Band ist Teil einer 12-bändigen Borges Gesamtausgabe des Hanser Verlages. Ausgestattet mit editorischen Notizen und Anmerkungen im Anhang, gebunden in hochwertiges Leinen und gedruckt auf feinem Papier bilden diese kleinen handwerklichen Kunstwerke heute eine wohltuende Ausnahme im etablierten Pappeinband-Dschungel der Verlagshäuser. Nein, ich glaube ich möchte Borges auch gar nicht erst auf einem eBook-Reader lesen müssen. Diese schön aufgemachten Bücher sind einfach dazu bestimmt, immer wieder in die Hand genommen und gelesen zu werden. Sicher war dieses Buch nicht das letzte, das ich aus dieser Ausgabe lesen werde. Leider sind heute nicht mehr alle Bände der 1999 begonnenen Gesamtausgabe im Druck...

Fazit: Ganz und gar ungewöhnliche Geschichten von einem der wohl ungewöhnlichsten Autoren des letzten Jahrhunderts. Zum Kennenlernen des berühmten 'blinden Bibliothekars' bestens geeignet, aber Vorsicht: wieder einmal nicht Lektüre für jedermann. Lesen!

Donnerstag, 6. Mai 2010

Hausbackene Verschwörungstheorie und Geheimwissenskrämerei - Dan Brown "Das verlorene Symbol"


Was war es nicht für ein Hype, der um dieses neueste Buch des Bestsellerautors Dan Brown losgebrochen ist. 6.5 Millionen Exemplare wurden in der englischsprachigen Erstauflage gedruckt (5 Millionen in den USA und 1.5 Millionen in UK). Mit einer Million verkauften Exemplaren am ersten Verkaufstag ging das Buch noch schneller und in weitaus größerer Stückzahl über die Verkaufstresen als Apples IPhone, IPod oder IPad. Folglich verkaufen sich Dan Browns literarische Machwerke besser als geschnittenes Brot. Aber kann ein mit so viel Vorschusslorbeeren bedachtes Werk auch den Erwartungen seiner Leser genügen?

Ja, ich gestehe, ich habe schon einige Romane von Dan Brown gelesen. Allerdings bislang immer in englischer Sprache. Daher existiert dazu auch nur ein einzelnes Review (ebenfalls in englischer Sprache) in meinem 'alten' moresemantic!-Blog (Conspiracy Ahead - Dan Brown: Angels and Demons). Aber es soll hier ja um den aktuellen Roman 'Das verlorene Symbol" gehen. Dieser stand im Bücherregal meiner Mutter, die ja bekanntlich eine Schwäche für Kriminalromane und Thriller hat, und so musste ich mir gar nicht erst die Originalversion besorgen. Genug der Vorrede. Worum geht es:

Prof. Robert Langdon spielt zum dritten Mal nach 'Da Vinci Code/Sakrileg' und 'Angel and Demons/Illuminati' die Hauptrolle in einem temporeichen und unterhaltsamen Roman, der aber seinen Vorgängern nicht mehr ganz das Wasser reichen kann. Das alte Handlungsmuster der Verschwörungstheorien hat eben langsam ausgedient. Da hatten wir die Tempelritter und Gralshüter im 'Sakrileg', die Illuminaten und die katholische Kirche in 'Illuminati'. Das macht alleine ja schon fast 70% aller Verschwörungsmythen aus. Was jetzt noch fehlt? Natürlich die "Freimaurer". Und wie ja jeder weiß, der schon einmal eine US-Dollar-Note in der Hand gehalten hat, auf der Vorderseite prangt George Washington (seines Zeichens erster Präsident der USA und praktizierender Freimaurer) und auf der Rückseite die große Pyramide mit dem allsehenden Auge - das Auge der Vorsehung -- an der Spitze, dem "alten Freimaurersymbol", das ebenfalls auf dem Siegel der USA prangt. Aber halt! Tappen wir nicht gleich in die erste Falle, die uns der Verschwörungstheoretiker stellt:
"Es ist ein allgemeines Missverständnis, dass das Auge der Vorsehung mit der unfertigen Pyramide den Einfluss der Freimaurerei in die Gründung der Vereinigten Staaten belegt. Obwohl der Freimaurer Benjamin Franklin eines der Mitglieder des Komitees war, welches das Siegel der Vereinigten Staaten entwarf, war er nicht für die Gestaltung und die Einführung dieses Symbols verantwortlich. Die erste offizielle freimaurerische Erwähnung auf das Auge der Vorsehung erfolgte 1797 in The Freemasons Monitor von Thomas Smith Webb, einige Jahre nachdem das Siegel entworfen wurde. Die freimaurerische Verwendung des Auges beinhaltet keine Pyramide, obwohl das umschließende Dreieck oft als solches fehlinterpretiert wird, selbst von Freimaurern." (Quelle: Wikipedia)
Und so geht es mit den meisten zitierten Indizien und Beweisen der großen Weltverschwörung, deren Eingeweihten Zugang zum "alten verlorenen Wissen der Menschheit" gewährt wird, das eine unendlich große Macht und ewiges Leben (oder ähnliches) verspricht.

Professor Langdon wird durch eine fingierte Nachricht nach Washington, der Zentrale des weltweiten Freimaurertums, gelockt. Um einen alten Freund aus der Gefahr zu helfen, soll er das verborgene Geheimnis der Freimaurer für einen unbekannten Erpresser entschlüsseln, der damit den Zugang zu göttlicher Macht zu erreichen sucht. Dabei spielen ebenfalls wieder Regierungsbehörden und Geheimdienste eine undurchsichtige Rolle, krude neuartige Technologien und Wissenschaft (Noetik - die Lehre vom 'geistigen Erkennen') kommen gepaart mit uralter Mystik zum Einsatz.
"Wenn es etwas gibt, das ich von Peter gelernt habe, dann dies: Wissenschaft und Mystik sind nah miteinander verwandt und unterscheiden sich nur durch ihren Ansatz. Das Ziel ist das Gleiche, nur der Weg dorthin ist ein anderer." (Seite 477)
132 kurze Kapitel halten den Leser auf über 750 Seiten in atemloser Spannung. Man jagt von Cliffhanger zu Cliffhanger und kann das Buch zum Ende hin nicht mehr aus der Hand legen. Solide Unterhaltung also, so sagen die Einen - immer wieder das Gleiche, so sagen die anderen. Zwar habe ich das Buch recht zügig und mit Interesse gelesen, aber es stellte sich sehr schnell ein Gefühl der Übersättigung bei mir ein. Nichts Neues, was die handelnden Charaktere angeht und die ständigen Griffe in die Verschwörungskiste nerven auf die Dauer.

Halten wir es doch ein für allemal fest: Indiana Jones hat die Bundeslade wiedergefunden, Robert Anton Wilson hat die Machenschaften der Illuminaten allesamt offenbart und Umberto Eco hat mit dem 'Foucaultschen Pendel' den ultimativen Verschwörungstheorieroman (und dazu noch einüberaus gelungenes Meisterstück) geliefert. Und damit haben wir den Hammer erst einmal recht hoch aufgehängt. Dan Brown hat gar nicht den Anspruch, literarisch Hochwertigeres zu schaffen. Warum auch? Der Erfolg gibt ihm Recht. Millionen Leser fühlen sich von ihm und seinen Werken gut unterhalten. Allerdings auf einen 4. Robert-Langdon-Roman kann ich erst einmal verzichten. Was soll jetzt auch noch kommen? Außerirdische, Nazis, der Jungbrunnen, Eldorado...? Alles schon gesehen, alles schon miteinander verknüpft (Akte-X sei dank...).

Einen letzten Kritikpunkt muss ich noch anmerken: Man möchte doch meinen, dass Dan Brown zumindest einige historische und bibliografische Fakten, mit denen er so reichlich in seinem neuen Buch prahlt, sorgfältig recherchiert hätte. Auf Seite 284 ist ihm allerdings ein Lapsus unterlaufen, der mir sofort ins Auge fiel:
"...und die Gutenberg-Bibel, eines der drei letzten vollständig erhaltenen Exemplare."
Hallo? Selbst die Wikipedia weiß es besser. Dort werden noch immerhin ganze 21 der insgesamt 48 heute noch erhaltenen Exemplare als vollständig geführt. Mein Rat an den geneigten Leser: einfach nicht immer alles glauben, insbesondere nicht, wenn es in einem Buch mit verschwörungstheoretischen Inhalt oder Anspruch steht.

Fazit: Massentaugliche spannende Unterhaltung, die bei manchem geneigten Leser doch einen etwas drögen Nachgeschmack hinterlassen mag. Lesen auf eigene Gefahr ;-)

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