Donnerstag, 7. Januar 2010

Über nie geschriebene oder verlorengegangene literarische Ergüsse - Alexander Pechmann "Die Bibliothek der verlorenen Bücher"

All die verschwundenen, zerstörten oder niemals geschriebenen Werke der Weltliteratur, Alexander Pechmann verfrachtet sie unversehens in die einzigartige 'Bibliothek der verlorenen Bücher' und stellt uns diese auszugsweise und pointiert in der Rolle des Unter-Unter-Bibliothekars vor. Dabei muss man sich einmal vor Augen führen, auf wie vielen unterschiedlichen Wegen ein Buch in diese Bibliothek gelangen könnte...
"Bibliotheken sind keine Ansammlungen toter Materie - sie leben, atmen und bewegen sich durch die Zeit. Wir Bibliothekare haben die Aufgabe, unsere Sammlung zu pflegen und zu bändigen wie ein wildes Tier, das immer größer und hungriger wird. Wenn es in seiner Gier zu viel frisst, geht es ebenso zugrunde, wie wenn es gar nicht gefüttert wird." (Seite 196)
Da ist sie also, Alexander Pechmanns 'Bibliothek der verlorenen Bücher'. Eigentlich war ich ja schon sehr gespannt darauf, was mich wohl erwarten würde. Natürlich hatte ich sofort an die Literatur der Antike gedacht, die in unsere heutige Zeit nur in Bruchstücken überliefert, also in weiten Teilen 'verloren gegangen' ist. Aber neben dieser offensichtlichen Tatsache, von der uns auch Alexander Pechmann teils faktisch fundiert, teils anekdotisch überspitzt und teils mythisch verzerrt berichtet, hätte ich nicht gedacht, wie viele Autoren von Rang und Namen aus der bekannten Weltliteratur zum Teil aus reiner Schusseligkeit, aus Verzweiflung, aus Rache, aus Dummheit, beabsichtigt oder auch unbeabsichtigt, bereits geschriebene Teile ihres Werkes im Zuge sich zuspitzender Ereignisse in ihrem Leben tatsächlich verloren haben.

Malcolm Lowrys Manuskripte wurden geklaut und sind verbrannt, Hemingway verlor eine Reisetasche mit begonnenen Frühwerken und überspielt den Verlust mit einigen Bonmots über die 'Kunst des Weglassens', für die er ja berühmt geworden ist.
"Er hatte begriffen, dass das Ungesagte oft eine größere Wirkung erzielt als weitschweifige Erklärungen." (Seite 27)
Prosper Merimée verbrennt eigenhändig ein Frühwerk über Cromwell, Lord Byrons Erben beschließen aus Furcht um einen Skandal seine (ungelesenen aber höchstwahrscheinlich absolut indiskreten) Memoiren den Flammen zu überantworten.
"...denn Leidenschaft ist ein Malstrom, den man vom Strudel aus nicht betrachten kann, ohne seine Anziehungskraft zu spüren."(Seite 38)
Mary Shelley, die Autorin des Frankenstein, hat sich einen schludrigen Verleger ausgesucht, der Teile ihrer Manuskripte 'verlegt'. Thomas Mann verbrennt seine (vermutlich) komprommittierenden Tagebücher - und so bleiben nur die 'langweiligen' von ihm erhalten. Franz Kafka soll gar zu einem Verleger bemerkt haben:
"Ich werde Ihnen immer viel dankbarer sein für die Rücksendung meiner Manuskripte als für deren Veröffentlichung."
Naja...seine Meisterwerke wurden dann ja doch erst posthum von Kafkas Freund Max Brod veröffentlicht. So geht es humorvoll weiter durch die Literaturgeschichte. Natürlich verschwinden nicht nur Einzelwerke, auch ganze Bibliotheken verschwinden vom Erdboden, wie z.B. natürlich die berühmte Bibliothek von Alexandria (dazu diverse Untergangsmythen). Aber wir erfahren auch von Büchern, die nie geschrieben wurden. Bücher, deren Existenz bzw. auch die ihrer Autoren auf reiner Fiktion berüht. Eines der berühmtesten Beispiele hierzu ist das von H.P. Lovecraft erfundene 'Necronomicon' (hat's schon jemand gemerkt...klingelt es in den Ohren...?), angeblich geschrieben von dem verrückten Araber Abdul Alhazred und im 13. Jahrhundert von Olaus Wormius (unvollständig) ins Lateinische übersetzt, das "die letzten Geheimnisse aller üblen und verbotenen Wissenschaften" enthält. Gebunden sei es in schwarzen Ebenholzdeckeln, die mit granatdurchsetzten Arabesken aus Silberdraht verziert sind, und seine seit langer Zeit schon vergilbten Seiten verströmen einen ekelerregenden Friedhofsgeruch... Interessant nur, dass zahlreiche weitere Autoren den Mythos des Necronomicons aufgegriffen und diesen oft auch sehr erfolgreich bedient haben.

Abgerundet wird das Buch mit einer bibliografischen Sammlung aufgelesener und zitierter Literatur (die man auch tatsächlich in Bibliotheken oder im Buchhandel findet), sowie einem umfassenden Register der erwähnten existierenden oder erfundenen Autoren samt ihrer 'verlorenen' Werke. Insgesamt ein sehr kurzweiliges und informatives kleines Büchlein des Aufbau-Verlages in ansprechender Aufmachung - nur noch wenige Bücher werden heute mit Leinen gebunden (wenn auch hier nur Halbleinen) und mit einem Lesebändchen ausgestattet. Lernt man doch so manchen bekannten oder auch (noch) nicht bekannten Autor oder Autorin von sehr privater Seite her kennen, insbesondere wenn es um Schusseligkeit, Dummheit, Wahnsinn, Boshaftigkeit, Schrulligkeit oder andere Eigenheiten geht. Pechmann reicht nicht ganz an den 'König der Leser' Alberto Manguel heran, dessen "Geschichte des Lesens" ich bereits im biblionomicon (sic!) besprochen hatte. Als Systematiker hätte ich mir natürlich auch gerne eine entsprechend aufgegliederte Darstellung all der vielfältigen Beweggründe, warum ein Buch Aufnahme in die 'Bibliothek der verlorenen Bücher' gefunden hat, in der Übersicht gewünscht. Aber vielleicht liefere ich das ja auch noch selbst hier nach...

Fazit: Kurzweilig Wissenswertes und Anekdotisches über bekannte und unbekannte Autoren der Weltliteratur, das vor allem Eines, nämlich Lust auf mehr macht. LESEN!

Links: